Kommentar von Prof. Georg Fülberth (DKP) zur Corona-Pandemie

Kommentar von Prof. Georg Fülberth (DKP) zur Corona-Pandemie

Fuchs, Wolf, Bär, Löwe, Floh

von Georg Fülberth

Es gibt ein Märchen vom Hähnchen, das ein Hühnchen begraben musste. Es legte dieses auf einen Wagen, und der wird über einen Sumpf zum Friedhof gezogen. Unterwegs bitten ein Fuchs, ein Wolf, ein Bär und ein Löwe darum, aufsitzen und mitfahren zu dürfen. Das wird ihnen erlaubt, ebenso am Ende auch noch einem Floh. Der aber war zu viel: der Wagen versinkt.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei der Floh die Voraussetzung der Katastrophe gewesen. Ohne ihn wäre der Wagen ans Ziel gekommen.

Andererseits: Erst die Last von Fuchs, Wolf, Löwe und Bär war die Ursache dafür, dass am Ende das winzige Insekt nicht mehr tragbar gewesen ist.

Was hat das mit dem Corona-Virus zu tun? Natürlich nichts, es sei denn, man nimmt die Geschichte vom Hähnchen, das das Hühnchen begraben wollte, als Metapher.

Ökonomen sprechen manchmal von „externen Schocks“. Das sind Ereignisse jenseits des Wirtschaftslebens, die über die Märkte herfallen und sie durcheinanderbringen. Ein Beispiel könnte der Beginn des Ersten Weltkriegs sein. Wäre er nicht ausgebrochen, hätte es mit der (angeblich) Guten Alten Zeit so weitergehen können wie bisher. Dumm gelaufen.

Zweifel an dieser Version sind angebracht. Auch 1914 waren Fuchs, Wolf, Löwe und Bär schon vorher da. Die imperialistischen Mächte hatten sich längst ineinander verkeilt. Ohne ihren permanenten Konflikt hätten die Schüsse von Sarajewo nicht zu weltpolitischen Konsequenzen geführt. Der Schock war wohl gar nicht extern, sondern hatte interne Voraussetzungen.

Zurück in die Gegenwart.

Spätestens seit dem Amtsantritt von Donald Trump und seiner Politik des „America first“ wird immer neu konstatiert: Die Ära der weltweiten Freizügigkeit für Waren, Kapital und Arbeitskräfte, die in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach dem Ende der Blockkonfrontation einsetzte, sei vorbei. Damit zerfiel die angestrebte liberale Globalisierung in neue Abschottungen, Handelskriege, Behinderung von Migration. Alle Auseinandersetzungen darüber wurden mit ökonomischen, politischen und moralischen Argumenten geführt. Auch das ist jetzt zumindest für ein paar Monate, wenn nicht länger vorbei. Aber man hat jetzt eine andere Ausrede: Der Kampf gegen die Ausbreitung des Virus mache – das ist die offizielle Meinung –  aus technischen Gründen rigorose Grenzschließungen alternativlos. So wird ein Trend fortgesetzt und verschärft, der sich bereits vorher angebahnt hatte.

Das gilt auch für die Konjunkturentwicklung:

Dass die wirtschaftliche Erholung, die nach der Krise von 2008/09 eingesetzt hatte und durch die Geldpolitik der EZB ab 2012 am Verpuffen gehindert wurde, irgendwann einer der üblichen periodischen Rezessionen weichen müsse, ist nach ca. zehn Jahren erwartet worden, ab 2018 häuften sich die Crash-Prognosen. Der Schwarze Donnerstag – die Börsenpanik vom 12. März 2020 – wurde zwar durch die Furcht vor dem Corona-Virus ausgelöst. Aber sonst hätte ein anderes Ereignis irgendwann dazu geführt.

Manche werden meinen, es sei frivol, die Pandemie mit einem Floh zu vergleichen. Denn ihr erlagen viele Menschen. Es geht aber um die Dimensionen: Ebenso wie Fuchs, Wolf, Bär und Löwe riesig waren im Vergleich zu dem kleinen Newcomer, gilt dies auch für gewaltigen Verheerungen, die in der so genannten neoliberalen Phase der Kapitalismus-Geschichte seit ca. 1980 angerichtet wurden. Das stimmt nicht nur für deren Summe in den vergangenen vierzig Jahren insgesamt, sondern – zeitgleich mit der Corona-Krise und unabhängig von ihr  – auch für die wenigen Monate seit dem März 2020: Unverändert forderten und fordern da Kriege, Flüchtlingselend, Hunger und Mangel in ökonomisch abgehängten Ländern, letztlich verursacht durch die marktradikale Entfesselung der Ökonomie, zahlreiche Opfer. Und es wird sie weiter geben, auch wenn die Pandemie vorbei sein sollte.

Bei den nun gebotenen Quarantäne- und anderen Vorsichtsmaßnahmen bemerken Unternehmen und Behörden, dass körperliche Präsenz der Beschäftigten am Arbeitsplatz nicht immer zwingend erforderlich ist. Stattdessen: Home-Office. Industriearbeiter haben diese Möglichkeit nicht, hier soll es Kurzarbeitergeld geben. Für den Teil des Kulturprekariats, das auf Life-Auftritte angewiesen ist, sieht es trübe aus.

Wenn irgendwann die Krise vorbei ist, kann sortiert werden: Wer wird noch gebraucht, wer nicht? Fragen, die vorher verdrängt wurden, sind zu beantworten. Dann wird man wissen: Es war mal wieder eine so genannte Reinigungskrise.

In ihrer Zuspitzung wurde also eine Entwicklung deutlicher sichtbar, die schon da war. Wer übrig bleibt, wird Muße haben, nicht allein auf den Floh zu starren, sondern hoffentlich auch Gelegenheit, über Fuchs, Wolf, Bär und Löwe nachzudenken: allesamt Raubtiere.

Sie haben ihren Schaden lange vor der akuten Krise angerichtet. Im Juli 2019 gab die Bertelsmann-Stiftung bekannt, eine bessere Krankenversorgung sei mit der Hälfte der bestehenden Kliniken möglich. Damit stieß sie, was ohnehin schon fiel: Betriebs- und Fiskalwirtschaft entschieden darüber, was gebraucht werde und was entbehrlich sei – während auf anderen Gebieten über Nachhaltigkeit geschwatzt wurde. Als Resultat wird in der aktuellen Notfallsituation die Krankenhaus-Infrastruktur knapp, die ausreichend vorzuhalten man für überflüssig gehalten hatte.

Das kalt erwischte politische Personal sieht sich Knall auf Fall genötigt, den Ausnahmezustand auszurufen und wirft sich wichtigtuerisch in Positur. Plötzlich spielt Geld keine Rolle mehr, die schwarze Null zumindest kurzfristig auch nicht. Die Aufwendungen in Milliardenhöhe, die zur Schadensbegrenzung versprochen werden, könnten – vielleicht – die fällige Wirtschaftskrise noch einmal suspendieren oder dämpfen. Denn nicht jeder Börsenkrach muss zwingend zum Zusammenbruch der Realwirtschaft führen, auch nicht die Panik vom 12. März.

Doch die Dinosaurier sind auch nicht faul. Zum Beispiel der Ökonom Thomas Straubhaar. Er schlägt vor, die Alten. Kranken und Schwachen von den Jungen und Kräftigen zu isolieren. Letztere sollen in Kontakt zueinander bleiben, sich unter ärztlicher Kontrolle infizieren und geheilt werden. Die Untüchtigen dürfen aussterben.

In schleichender Form könnte das jetzt schon beginnen. Seit Mitte März machen Kneipen, Discos, Clubs dicht. Fußballspiele finden nicht mehr statt und können deshalb nicht im Fernsehen verfolgt werden. Zu Hause dürfte es Ehepaaren langweilig werden. Ab Dezember mag es mehr Babies geben. Zusammen mit dem schnelleren Absterben der Alten ändert sich die demografische Bilanz. Die ist seit Jahrzehnten schon ein heißes Thema.

Weiter: Die ungeheure Geldvermehrung und –entwertung durch die Zentralbanken ruiniert die Sparkonten und lässt die Eigentümer(innen) von Sachvermögen (Immobilien!) gut dastehen. Auch da beschleunigt sich etwas, was schon lange auf dem Weg ist.

Weiter so? Vielleicht. Denkbar ist aber auch, dass – wie nach der Weltwirtschftskrise von 1929 – jetzt eine von der Not erzwungene keynesianische Wende eintritt: mehr nachhaltige staatliche Konjunkturstützung sowie nachfrageorientierte Einkommens-, Verteilungs- und  Beschäftigungspolitik. Dass die unvermeidlich sei, hatten schon vor der Corona-Krise einige Spatzen von den Dächern gepfiffen. Es  drängt etwas an die Oberfläche, was längst geboten war. Falls es sich durchsetzen sollte, wäre der Floh, ökonomisch gesehen, sogar eher nützlich als schädlich gewesen.

Eine gekürzte Version ist in der Zweiwochenschrift Ossietzky (Nr. 7/2020. S. 217-219) erschienen.