“Krieg und Frieden” – Johannes Klotz (Forum Wissenschaft) zur Doktrin der Militarisierung und Abschreckung

An folgender Stelle dokumentieren wir den Artikel “Krieg und Frieden” von  aus der aktuellen Ausgabe vom Forum Wissenschaft, der Zeitschrift des Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Krieg und Frieden – Doktrin der Militarisierung und Abschreckung

Johannes Klotz

»Der Krieg muss nach Russland getragen werden…, . Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände«[1], fordert der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter. Die radikale Gruppierung deutscher Sicherheitspolitiker riskiert den großen Krieg, den die »sicherheitspolitische Community« vorantreibt. Wie steht es um »Krieg und Frieden«, wie werden »Sicherheit« und »Frieden« umdefiniert in eine neue/alte Doktrin der Militarisierung, Abschreckung und massive (atomare) Aufrüstung? fragt Johannes Klotz.

Der anstehende Generationenwechsel (nicht nur in den USA) signalisiere, laut Constanze Stelzenmüller[2], bevorstehende Umbrüche in der künftigen Außen- und Sicherheitspolitik, die das Militärbündnis der Nato verändern würden. Für Deutschland und Europa bedeutet das: Militarisierung, Aufrüstung, Abschreckung.[3]

Was Sicherheitsexperten sagen

»Wir können nicht ausschließen, dass deutsche Soldaten in wenigen Jahren kämpfen müssen« schreibt der Militärhistoriker Sönke Neitzel im Ausblick auf das Jahr 2024 und rät der Armee, »mehr zu singen«, um Druck auf die »Unwilligen« zu machen.[4]

Was Neitzel voraussagt, von einem Netzwerk der »sicherheitspolitischen Community«[5] seit den 1990er Jahren vorgedacht und vorangebracht, wird von Medien ins gesellschaftliche Bewusstsein implementiert.

Aktuell ist ein erwünschter Sieg der Ukraine gegen die russische Invasionsarmee der Realität eines Kampfs um Stellungen gewichen. Hunderttausende Tote, Verletzte und Millionen Entwurzelte. Zwischenbilanz: Mensch und Natur verrecken, zerstörte und vergiftete Umwelt und Natur mit weitreichenden Folgen, zerstörte Infrastrukturen. … Ein Agieren, das jeglicher Vernunft widerspricht[6]

Die Lösungsunfähigkeit existenzieller Krisen durch die Politik und die Regierungen setzt das Weiter-Leben von menschlicher Art und Natur aufs Spiel, fördert Populismus, Autoritarismus und Rechtsextremismus. Krieg und Naturzerstörung mit Folgen einer »Selbstverbrennung«[7] verlangen schnellere Änderungen unserer Lebensweisen als die Staatsapparaturen dazu fähig sind.

Auch endlose Kriege sind völkerrechtswidrig, ein Verbrechen. Selbstverteidigung schließt nicht ein, Kriege bis zur Auslöschung oder Vernichtung des Zivilen oder gar der gesamten menschlichen Zivilisation zu riskieren.[8] Kein Zweifel, auf Kriege, die Ausdehnung der Nato und die Aufkündigung der Abrüstungsverträge durch die USA, reagierte Russland mit kriegerischen Interventionen, wie die amerikanische Historikerin Sarotte bemerkte.[9] Eskalationsdynamiken sind Mechanismen, die über Aktion und Reaktion der Handelnden ausgelöst werden und außer Kontrolle geraten können. Behauptungen, »Putin« alleine eskaliere, sind sachlich falsch und übersehen, dass eine ihrer Ursachen in der militärischen Interventionspolitik des »Westens« nach 1990 lag. Eskalieren kann auch eine Strategie, immer substanziell bedeutsamere Waffen einzusetzen, wie der Marschflugkörper Taurus, um etwa die Krim vom russischen Nachschub abzuschneiden. Es ist einzukalkulieren, dass dieser Einsatz aufgrund der militärischen Fähigkeiten Russlands Folgen haben kann, auch wenn dies häufig von deutsch-atlantischen Netzwerkern bagatellisiert wird. Nur ein annäherndes Patt enthält für den »Westen«, die Nato und die Ukraine überhaupt noch Verhandlungsmasse. Im anderen Fall steigen die Risiken einer (atomaren) Eskalation. Nur substanzielle Angebote der Nato-Staaten und eine Bereitschaft der Ukraine würden einen auszuhandelnden Kompromiss und definierten Waffenstillstand und Frieden mit Russland ermöglichen.

Verhandlungen sind das einzig Vernünftige. Alle Seiten müssen sich auf einen festzulegenden Kompromiss einigen. Waffenstillstand und Vereinbarungen sind einem Kontrollrat zu unterwerfen.[10] Die Zeit des Kalten Kriegs (1945|–|1990) hält dafür Lösungsmechanismen bereit. Wer und wie bestimmt in Deutschland die Propaganda über »Deutsche Krieger«, Auslandseinsätze und Umbau der Bundeswehr und Aufrüstung?

Die Politik der Vereinigten Staaten, der Nato und Deutschlands, ist bis heute nicht bereit, substanzielle Verhandlungsangebote auf den Tisch zu legen, »wo doch Kriege irgendwann enden«(!). Sie bestimmen faktisch den Weitergang des Krieges durch Waffenlieferungen. Der Annahme, vom Putin-Regime einen Rückzug zu erwarten, widersprechen historische Erfahrungen.

Die Vernunft muss andere Lösungen suchen: Keine Maximalforderungen aufrechtzuerhalten, was bedeuten würde, die seit spätestens Mitte der 1990er Jahren (USA) praktizierte Politik einer Revitalisierung der Aufrüstung und einer Politik der Abschreckung durch Stationierung spezieller Waffensysteme und Nato-Mitgliedschaft in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten (Neue Nato-Strategie) nicht fortzusetzen. »Selbstbestimmung« versus »Frieden und Sicherheit« auszuspielen, ist eskalierend. Keineswegs kann militärische Sicherheit[11] Frieden erzeugen, das könnte nur eine praktizierte Friedensordnung einer abgerüsteten und zivilisierten Welt. Eine weltweite Abrüstung, die Lösung der Umwelt- und sozialen Krisen kann nur durch Kooperation erreicht werden und ein Verlassen des aktuell eingeschlagenen Pfads der Endzeit der bestehenden Arten.

Geistige Mobilmachung

Medien, deutsch-atlantische Think Tanks der Sicherheitspolitik und Kriegswissenschaftler streben jedoch seit langem mit ihren Vorschlägen in eine militaristische, existenzgefährdende Richtung, wie das Beispiel des Potsdamer Militärhistorikers Sönke Neitzel zeigt:

Sein im November 2020 erschienenes »Standardwerk«[12] über »Deutsche Krieger« ist Sinnbild einer militaristischen Haltung und öffentlichkeitswirksamen Strategie geworden: Verbrechen deutscher Soldaten und Vernichtungskrieg zu historisieren, um den »archaischen Kämpfer«, den »Krieger« und gelungene Operationen z.|B. der Wehrmacht als Lehrbeispiele zu revitalisieren. Gleich nach der Wende 1990 rückten Anhänger dieses Soldaten- und Kämpfertums in den Fokus der Bundeswehrreform. CDU/CSU und FDP, Verteidigungsminister Volker Rühe und der damals oberste General der Bundeswehr, heute Ehrenpräsident der Deutsch-Atlantischen-Gesellschaft, Klaus Naumann, entwarfen Konzepte und Richtlinien über die Kriegsfähigkeit Deutschlands und den Einsatz der Armee im Ausland. Die in der Charta von Paris für ein neues Europa und in den Deutschland-Verträgen bestimmte Friedenspolitik konnte zurückgedrängt werden. Später wollte SPD-Verteidigungsminister Struck Deutschlands Interessen am Hindukusch verteidigen.[13] Friedensdividende und Entwürfe für eine gemeinsame kollektive Sicherheitsordnung in Europa scheiterten an der militärischen Interventionspolitik der USA. Diese Politik »normalisierte« Kriegseinsätze im Zeichen deutsch-amerikanischer Solidarität.[14] Weitgehend unbemerkt expandierten deutsch- und europäisch-atlantische Netzwerke. Sie verbreiten über ihre »Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit« sicherheitspolitische Konzepte in Form militaristischer Ideologien über Medien in das Alltagsbewusstsein.

Durch den Auf- und Ausbau von »Sicherheitsinstituten« an und außerhalb von Universitäten, von alten und neuen strategischen Denkfabriken und in Militär- und Sicherheitsverbänden wuchsen gleichzeitig Organisationsstärke und Beratungsleistungen für Politik und Gesellschaft.[15]

Etwa zwei Jahrzehnte später schreckte der »russische« Krieg gegen die Ukraine und die Ausrufung der »Zeitenwende« 2022 die deutschen Lebenswelten auf. Militär- und kriegsorientierte Kreise kritisieren, dass die Deutschen wenig kriegsbereit, oder bezweifelten, dass sie überhaupt kriegsfähig sind,[16] so wie Sönke Neitzel, dessen Professur für Militärgeschichte und »Kultur«-Geschichte der Gewalt an der Universität Potsdam in Wirklichkeit seine politischen Ambitionen der Einflussnahme verschleiert, indem er als »Berater« und »Experte« von den Medien präsentiert wird. Meistens stimmen Moderatoren diesen »Wahrheiten« ohne kritisches Nachfragen zu, sodass ein einseitiges Bild zurückbleibt. Neitzel u.|a. fordern mit Nachdruck von der deutschen Regierung massive Aufrüstungsbeschlüsse, die Festlegung auf eine neue Abschreckungsdoktrin, schieben alle Verantwortung auf »Putins Krieg« und lenken von eigener Verantwortungslosigkeit u.|a. damit ab, dass ›Frieden‹ »leider« nicht der Weltlage[17] entspräche. Rechtfertigungen fürs Militärische gibt es viele, u.|a.: »Wir haben viel zu lange die Wörter ›Krieg‹ und ›Kampf‹ vermieden«, erklärt der Militärhistoriker seine »Forschungsergebnisse« – »wir müssen kriegstüchtig werden«. Gleich wie es Verteidigungsminister Pistorius und sein Generalinspekteur Breuer fordern[18], vertritt der »Militärexperte« die Meinung als politisch agierender Historiker: »Wir müssen gewinnen wollen, weil wir gewinnen müssen.«[19], fernab von einer realistischen Einschätzung des Potenzials Russlands. Befragt von einer Moderatorin des Bayerischen Rundfunks nach den »Lehren aus der Geschichte« antwortet Neitzel: »Wir haben sehr viel Geld in die Friedens- und Konfliktforschung gesteckt, gerade in Hessen« … »Genau das ist das Problem, das wir haben. Es hat die Illusion genährt, dass wenn wir nur schön friedlich sind, sind die anderen auch friedlich.«[20] Nur leider »ist das Putin völlig egal, Assad ist es völlig egal und Hamas ist es völlig egal.« Daraus folgt für Neitzel: »Leider ist das Militär ein Mittel der Politik«.[21] Das haben inzwischen auch ehemalige Leiterinnen von Friedensforschungsinstituten wie die medienbekannten Nicole Deitelhoff[22] und Ursula Schröder[23] gelernt. Der Marburger Historiker Eckart Conze bezeichnet die Art und Weise der Erforschung deutscher Militärgeschichte durch Neitzel als kriegslegitimierende Ideologie, die nach »Deutschen Kriegern« verlange.[24] Wenn Leiterinnen von Friedensforschungsinstituten zum Kriegerischen keine friedensorientierten Alternativen einfallen, verfehlen sie ihre Aufgabe. Seit über drei Jahrzehnten geistern Forderungen nach Aufrüstung und Abschreckung durch deutsch-atlantisch orientierte Militär- und Sicherheitsinstitute und drängen selbstreferenziell nach politischer Umsetzung. Dies geschieht mit einer auflagenstarken militaristischen Literatur und als kongeniale Partner von Bundeswehr, zahlreichen Wehr- und Sicherheitsgesellschaften, Parteien-Stiftungen, ARD und ZDF und in anderen Medien.[25] Der Vorwurf des renommierten Historikers Eckart Conze gegenüber Neitzel, er nehme Verbrechen in Kauf, wiegt besonders schwer. Neitzel, der als Historiker erforscht hat, zu welcher Gewalt und Kriegsverbrechen der Soldat im Krieg fähig ist, kommt zu dem lapidaren Schluss, dass sie unvermeidbar sind – historisch wie aktuell![26] Jeder vernünftige Mensch würde, wenn er nicht schon das Gewaltverbot ernst nimmt, spätestens dann die Abschaffung des Krieges anstreben. Die Experten unserer Sicherheit fordern das Gegenteil: Abschreckung, Aufrüstung und Krieg als Mittel der Politik zur Selbstverteidigung bis in den Tod.

Gemeinsame Sicherheit in Europa – aber wie?

Aktuell sind Forschungsergebnisse der amerikanischen Historikerin Marie Elise Sarotte von Bedeutung. Sie hat das Jahrzehnt nach der Wende von 1989/90 erforscht. Die Ergebnisse ihrer Archivarbeit sind eindeutig. An der Außenpolitik aller US-Administrationen hebt sie hervor: Kooperation und Entspannung waren in den 1990er Jahren keine Leitmotive, kritisiert sie. Sie plädiert für eine Kooperation der Staaten, die den anderen nicht vor den Kopf stößt, die abrüstet. Analog zur heutigen Situation stark ideologisierter Debatten spricht ihre diesbezügliche Interpretation zu Krieg und Frieden der 1990er Jahre Bände: Möglichkeiten einer kooperativen Politik seien nicht verfolgt worden. Unter der Dominanz neokonservativer außenpolitischer Strategien scheiterten die US-Präsidenten letzten Endes an Amerikas Gewalt- und Expansionspolitik.[27] Die westliche Hauptmacht setzte auf Kriege und Ausdehnung der Nato.

Inzwischen reden und schreiben Europas Politiker und Medien eine europäische Atombewaffnung herbei,[28]weil sie den Entzug des amerikanischen Atomschirms über Europa, unter einer Präsidentschaft Trumps zumal, befürchten. Der militante Freund und Unternehmensberater der US-amerikanischen ehemaligen Außenministerin Madeleine Albright, Joschka Fischer, ehemaliger deutscher Außenminister, der mit Schröder Deutschland in den völkerrechtswidrigen NATO-Krieg gegen Jugoslawien führte, frönt: »Es hat doch keiner von uns damit gerechnet, dass Kriege um die Hegemonie in Europa wieder möglich sein werden«.[29]

Sarotte kritisiert diesen konfliktreichen Weg der Vereinigten Staaten, der hohe Kosten verursacht und international Widerstände erzeugte oder verstärkte. Eine kooperative und integrative Politik jedenfalls wäre risikoärmer und möglicherweise erfolgreicher gewesen. Dem deutschen Mainstream dürfte das wenig gefallen, denn die Historikerin artikuliert klar und deutlich, wer im Westen die Richtung vorgibt:

#zi »Washington gewinnt den Kampf mit Moskau um die NATO in den 1990er Jahren, doch die Art, wie die USA die Erweiterung umsetzen, bedeutet, dass sie auf lange Sicht Optionen hinsichtlich Russlands verlieren. Das große Spiel in Europa wäre gewesen, eine Dynamik zu schaffen, die eine bleibende Kooperation statt Konfrontation zwischen Russland und dem Westen etabliert hätte. […] Amerikanische Entscheidungen in Verbindung mit dem tragischen Scheitern Gorbatschows und Jelzins untergraben das Potenzial für eine Zusammenarbeit nach dem Kalten Krieg und stoßen das Verhältnis von USA und Russland in eine Periode ungleichmäßigen Niedergangs.«[30]

Sie hält fest: Wie die Nato-Erweiterung vonstattenging, habe zu einem Verlust an Handlungsoptionen der transatlantischen Beziehungen und zur Konfrontation geführt. Aus amerikanischer Sicht sei sie ein strategischer Erfolg gewesen, der osteuropäischen Staaten »Sicherheit« und Demokratie gebracht habe, blutige Konflikte seien auf dem Balkan beendet worden. Jene »amerikanische Sicht« habe sich allerdings des Öfteren als Trugschluss erwiesen:

#zi »Es ist keine Kleinigkeit, die Sicherheit von fast einer Milliarde Menschen zu garantieren. In den 1990er Jahren waren zwei amerikanische Präsidenten so darauf fixiert, Artikel 5 nach Osten auszuweiten, dass sie nicht genug über die Folgen nachdachten, falls sie dieses Ziel erreichten.«[31]

Der Fall der Berliner Mauer 1989 hat für kurze Zeit Möglichkeiten für eine kooperative Ordnung in Europa geschaffen. Alternative Formen der Partnerschaft »scheiterten am Widerstand der Hardliner« in der US-Administration, der späteren »Wolfowitz-Doktrin« und deren Vorläufern [32], die bis heute dominiert.

#zi »Diese härtere Haltung führte zu Resultaten, verdeckte aber Optionen, die vielleicht die Zusammenarbeit gestärkt, das Wiedererstarken des amerikanisch-russischen Konflikts weniger wahrscheinlich gemacht und auf lange Sicht Washingtons Interessen besser gedient hätten.«[33]

Im Bewusstsein der Deutschen sind Kenntnisse und Bedeutung amerikanisch-imperialer Dominanz, wie das Afghanistan-Desaster mit dem überstürzten Rückzug der US-Amerikaner und ihrer Partner, den vielen Toten im Verlauf flüchtender alliierter Streitkräfte, verblasst oder erst gar nicht bewusst geworden. Statt aufzuarbeiten wird von oben versucht, die passende Einstellung zu finden, um Sicherung der Einflusssphären zu rechtfertigen, anstatt das Ziel der Charta von Paris für eine gerechte Ordnung des Friedens und Ausgleichs praktisch anzustreben. Selbst vorsichtige Kritik und Selbstreflexionen der amerikanischen Historikerin werden beiseitegeschoben, mit dem Ziel, den öffentlichen Diskurs auf Krieg umzustellen:

#zi »Die amerikanische Entscheidung (der Nato-Osterweiterung; JK) verband sich schließlich auf schicksalhafte Weise mit den tragischen Entscheidungen Russlands. […] Sobald Präsident Boris Jelzin sich Ende 1993 und 1994 entschloss, das Blut seiner Gegner in Moskau und Tschetschenien zu vergießen, und die antireformerischen Extremisten den Sieg bei den Parlamentswahlen im Dezember 1993 errangen, wurde es viel schwieriger, die Vision einer Partnerschaft, die sowohl Moskau als auch die früher von ihm beherrschten Völker umfasste, aufrechtzuerhalten. Eine explodierende Inflation in Russland als Teil des Übergangs zur Marktwirtschaft intensivierte nur das Gefühl zerbrechender Hoffnungen. Das Blutvergießen auf dem Balkan machte alle Fragen der europäischen Sicherheit noch drängender und schuf neue Spannungen zwischen Washington und Moskau über die Frage, wie der Gewalt zu begegnen sei. Innenpolitische Entwicklungen in den USA – vor allem der große Sieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen zum Kongress 1994 – beeinflussten ebenfalls die Außenpolitik und trieben Clinton zu einer konfrontativeren Strategie der NATO-Erweiterung.«[34]

Solche historischen Fakten stören Kriegsführungsfähigkeitsdebatten! Ohne den militärischen Imperialismus nach außen[35] zu thematisieren, sind Differenzierungen durch präzise historische Forschung noch möglich; trotzdem beiseitegeschoben, stellen sie Fakten bereit, die von Einseitigkeit beschwiegen werden.[36]

Es ist höchste Zeit, an die Erkenntnisse der großen Persönlichkeit und des Friedensforschers Dieter S. Lutz anzuknüpfen![37]

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Johannes Klotz, Publizist und Analyst des Ukraine-Kriegs, Politologe und Historiker, Freiburg im Breisgau

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Anmerkungen:

[1] Roderich Kiesewetter in: <$!#url-a>https://www.dw.com/de/kiesewetter-den-krieg-nach-russland-tragen/a-68215200<$!#url-e> am 9.2.2024 in der Deutschen Welle.

[2] Eine wichtige deutsch-atlantische Netzwerkerin, siehe Wikipedia und demnächst in Ossietzky.

[3] Zur aktuellen Lage in den USA: Heritage Foundation sei Flaggschiff des Trumpismus, neokonservative Think Tanks hätten sich abgespalten wie American enterprises – laut Constanze Stelzenmüller befinde sich die politische Landschaft der USA in der Umgruppierung. Die Trump-Mannschaft sei nun vorbereitet, habe traditionelle Konservative in der ersten Präsidentschaft aufgenommen, die nicht 100prozentig Trump seien. Vgl. Constanze Stelzenmüller im Interview des Deutschlandfunks am 10.2.2024, unter: <$!#url-a>https://www.deutschlandfunk.de/interview-stelzenmueller-constanze-brookings-institution-dlf-929eb019-100.html<$!#url-e>, am 11.2.2024. Stelzenmüller wünscht sich ein Bekenntnis zur Beschleunigung der Aufrüstung auf der Münchner Sicherheitskonferenz und auf der Nato-Konferenz im Juli in Washington. Siehe auch Munich Security Report 2024.

[4] Interview mit Sönke Neitzel im Spiegel 1/2024: 24, »Pistorius muss die Bundeswehr so aufstellen, dass sie in fünf Jahren kämpfen kann«.

[5] Vgl. Florian Stöhrs Dissertation, der seit bald zwei Jahrzehnten für die Bundeswehr und die Deutsch-Atlantische Gesellschaft tätig ist. Siehe Die sicherheitspolitische Community in Deutschland, Baden-Baden 2021

[6] Dazu: Zerstörung der Vernunft in Zeiten des Krieges, Berlin 2000. Ein Beitrag von Dieter S. Lutz und Stefanie Christmann unter Mitwirkung von Johannes Klotz.

[7] Bezogen auf den Klimawandel hat der ehemalige Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung Hans-Joachim Schellnhuber seine Bilanz »Selbstverbrennung« genannt. Das war im Jahr 2015. »Verbrennung« kann ebenso auf Kriege bezogen werden, die fossile Stoffe, Mensch und Natur verbrennen, mit weitreichenden negativen Folgen bis zur Kontaminierung durch ABC-Waffen.

[8] Vgl. dazu die Überlegungen der Letzten Generation im Interview mit dem Deutschlandfunk am 10.2.2024

[9] Vgl. Das Neue Strategische Konzept der NATO und die Zukunft der nuklearen Abrüstung in Europa von Matthias Dembinski / Harald Müller, HSFK-Report Nr. 8/2010 und Mary Elise Sarotte weiter unten.

[10] Vgl. dazu die Überlegungen von Dieter S. Lutz, angedeutet in: Johannes Klotz 2024: »In Memoriam Dieter S. Lutz«, Ossietzky 3/2024.

[11] Siehe dagegen die Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung, Berlin 2024.

[12] In vielen Auflagen erschienen, als Taschenbuch, als Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung und erweiterten Neuauflagen.

[13] <$!#url-a>https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-des-bundesministers-der-verteidigung-dr-peter-struck–784328<$!#url-e>, 20.12.2002, abgerufen am 30.12.2023

[14] Vgl. Bernd Greiner 2021: Made in Washington, Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben, München.

[15] Vgl. Florian Stöhr 2021: Die sicherheitspolitische Community in Deutschland, Baden-Baden; Johannes Klotz 2024: »Die Rückkehr des Krieges«, in: Geschichte und Frieden in Deutschland 1870|–|2020, Festschrift Wolfgang Wette, hg. von Helmut Donat und Reinhold Lütgemeier, Bremen und ders. 2023: »Zeitenwende« – Neue Militarisierungskonzepte und globale Machtansprüche«, in: Das Argument 340 Ukraine-Krieg – Weltordnungskrieg: 206ff.

[16] Vgl. Forsa vom 20.12.2023, unter: <$!#url-a>https://www.stern.de/politik/deutschland/umfrage–nur-17-prozent-der-deutschen-bereit-zur-landesverteidigung-mit-der-waffe-34301080.html<$!#url-e>, abgerufen am 25.12.2023.

[17] Bayerischer Rundfunk 2, <$!#url-a>https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzg0MmE3NTViLTliM2YtNDM5MC1hNzU4LTI2NDQyNzRjNjBhMw<$!#url-e>, abgerufen am 10.02.2024, bis 2028 abrufbar.

[18] In fünf Jahren kriegsbereit sein, fordern Pistorius und Breuer in der Welt am Sonntag vom 11.02.2024. »Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime« in den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom November 2023 meint nichts anderes als Kriegsbereitschaft.

[19] Vgl. Anm. 12, Min. 16:33.

[20] <$!#url-a>https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzg0MmE3NTViLTliM2YtNDM5MC1hNzU4LTI2NDQyNzRjNjBhMw<$!#url-e>, abgerufen am 17.11.2023, Min. 16|–|17.

[21] Ebd.

[22] Sie leitet das Leibnitz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung, vormals Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung. Die endgültige Umbenennung 2023 signalisiert auch die substanzielle Änderung der Grundlagen von Friedens- und Konfliktforschung.

[23] Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. An der Reihe seiner wissenschaftlichen Direktoren lässt sich die Entwicklung ablesen, welche die institutionalisierte Friedensforschung in Deutschland seit 1971 insbesondere nach dem von den USA ausgerufenen »Krieg gegen den Terror«, nach 9/11 genommen hat: 1971|–|1984: Wolf Graf von Baudissin; 1984|–|1994: Egon Bahr; 1994|–|2003: Dieter S. Lutz; 2003|–|2006: Reinhard Mutz; 2006|–|2016: Michael Brzoska; 2016|–|2017: Götz Neuneck und Wolfgang Zellner (kommissarisch); seit Oktober 2017 Ursula Schröder.

[24] Vgl. dazu Johannes Klotz 2024:»Die Rückkehr des Krieges« (s. Anm. 15).

[25] Vgl. Johannes Klotz 2024: »›Im Krieg gegen Russland‹ – Mobilisierung und Irreführung der öffentlichen Meinung durch Presse, Rundfunk und Fernsehen«, in: Hermann Theisen / Helmut Donat (Hg.): Bedrohter Diskurs – Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg, Bremen: 259|–|268, Fn 24. Zum Hintergrund der Personen vgl. zunächst den Informationsdienst Wikipedia.

[26] Wie er schon 2011 bei einem Auftritt der Stiftung Demokratie des Saarlandes ausführte: ab Minute 37: unter: <$!#url-a>https://www.youtube.com/watch?v=fdrQONuMyIE&t=2360s<$!#url-e>, abgerufen am 21.12.2023

[27] Bernd Greiner 2021 (s. Anm. 14): 163ff.

[28] Vgl. Handelsblatt 9.|–|11.2.2024: »Europas Bombe, Warum die Politik eine neue Debatte über Atomwaffen führt – und welche Rolle die Wirtschaft dabei spielt«, oder Die Welt: »Debatte über die Rückkehr der Wehrpflicht« vom 9.2.2024, oder die FAZ vom 9.2.2024: »In deutschem Interesse« und Joschka Fischer am 3.12.2023 in: Der Spiegel: »Die EU braucht eigene atomare Abschreckung«.

[29] Joschka Fischer im Interview der NZZ vom 3.02.2024.

[30] Mary Elise Sarotte 2023: Nicht einen Schritt weiter nach Osten, Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung, München: 37 f.

[31] Ebd.: 23.

[32] Bernd Greiner 2021 (s. Anm. 14): 165 und 179 f.

[33] Ebd.; Marie Elise Sarotte 2023: 24.

[34] Ebd.: 25f.

[35] Vgl. Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 9/II: III (Vorwort).

[36] Vgl. Andreas Zumach 2023: »Ein Jahr Ukraine-, 20 Jahre Irakkrieg«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2023; »Expansion und Eskalation: 60 Jahre Nato«, in: Blätter… 4/2009: 53ff.

[37] Johannes Klotz 2024: »In Memoriam Dieter S. Lutz«, in: Ossietzky 3/2024.