Ohne Leninismus ist alles nichts – zum 150. Geburtstag W. I. Lenins

Ohne Leninismus ist alles nichts – Artikel und Hörspiel zum 150. Geburtstag W. I. Lenins

Der Name „Lenin“ steht gleichzeitig für etwas Lebendiges wie für etwas Historisches.
Lebendig ist er im weltweiten Kampf für Sozialismus und Kommunismus (den mehr Menschen führen, als ein von Medienscheuklappen begrenzter Blick aus der imperialistischen Metropole erkennt). (…)
Das, was an Lenin historisch ist, mag man ahnen, wenn man einige Verse aus einem Gedicht von Johannes R. Becher über ihn liest (noch besser: in der großartigen Vertonung von Hanns Eisler hört, etwa gesungen von Ernst Busch): „Er rührte an den Schlaf der Welt/Mit Worten, die wurden Maschinen,/Wurden Traktoren, wurden Häuser, Bohrtürme und Minen –/Wurden Elektrizität,/Hämmern in den Betrieben,/Stehen, unauslöschbare Schrift,/In allen Herzen geschrieben.“

Wir empfehlen das Hörspiel “Nie mehr warten!” – Ein Sprech-, Sing- und Musikdrama von Dietmar Dath und Thomas Weber zum 150. Geburtstag von Wladimir Iljitsch Lenin. Lenin kehrt aus dem Exil zurück und leitet die Umwälzung zum Sozialismus ein.

Außerdem dokumentieren wir im folgenden den Artikel “Techniker mit Feuerseele” von Dietmar Dath aus der Ausgabe der UZ vom 24. April 2020.

Techniker mit Feuerseele

Dietmar Dath

Der Name „Lenin“ steht gleichzeitig für etwas Lebendiges wie für etwas Historisches. Lebendig ist er im weltweiten Kampf für Sozialismus und Kommunismus (den mehr Menschen führen, als ein von Medienscheuklappen begrenzter Blick aus der imperialistischen Metropole erkennt).

Lebendig ist er auch bei dessen Feinden: Der amerikanische Propagandaprofi Steve Bannon, der zu den Wahlkampfberatern von Donald Trump gehörte, nennt sich kokett einen „Leninisten“, um seine rechte Hetze revolutionär zu lackieren (nichts Neues: schon Hitlers Faschisten nannten sich „Sozialisten“, nationale allerdings); die rechtsradikale Meute der „Alt-right“ im Netz wiederum spricht statt von Antirassismus, den sie hasst, neuerdings von „Bioleninismus“, womit sie sagen will, dass der Antirassismus für Menschen kämpft, die angeblich biologisch minderwertig seien, wie der Leninismus für diejenigen streitet, die der Kapitalismus ausbeutet und unterdrückt.

Das, was an Lenin historisch ist, mag man ahnen, wenn man einige Verse aus einem Gedicht von Johannes R. Becher über ihn liest (noch besser: in der großartigen Vertonung von Hanns Eisler hört, etwa gesungen von Ernst Busch): „Er rührte an den Schlaf der Welt/Mit Worten, die wurden Maschinen,/Wurden Traktoren, wurden Häuser, Bohrtürme und Minen –/Wurden Elektrizität,/Hämmern in den Betrieben,/Stehen, unauslöschbare Schrift,/In allen Herzen geschrieben.“

Jüngere Leute finden das seltsam: Hier wird, sagen sie oft, nichts gelobt, das heute noch wichtig wäre, nur die Industrialisierung Russlands, eine Leistung, die eindeutig in der Vergangenheit liegt. Was geht uns ein Mann an, der unter sozialistischen Vorzeichen eine Moderne errichtete, die anderswo der Kapitalismus als „ursprüngliche Akkumulation“, also Enteignung von Kleinproduzenten und deren Zwangsrekrutierung für die Fabrikarbeit, verbrochen hat?

Es gibt eine zynische Sicht auf Lenin, die ihn nur als „nachholenden Modernisierer“ sehen will, der Russland aus dem Mittelalter zog. Aber seine Modernisierung unterscheidet sich grundlegend von allen bürgerlichen Wegen aus der Vormoderne. Der Unterschied wird allerdings nur sichtbar, wenn man außer in wirtschaftlichen Begriffen auch noch politisch denken kann, was die meiste (auch linksliberale bis linksradikale) bürgerliche Geschichtsbetrachtung sich nicht gestattet, weil es die Herrschenden ärgert.

Vom Zweck und vom Mittel

Die Lehre, die Lenins Namen trägt, der Leninismus, ist die höchstentwickelte Theorie der Mittel für alle Zwecke, die das Wort „Kommunismus“ zusammenfasst. Man kann zum Verhältnis zwischen Zweck und Mittel in der Politik verschiedene Ansichten haben: Erstens die, dass der Zweck die Mittel moralisch heilige. Dann ist alles erlaubt. Das größte Problem dabei: Woher weiß ich, dass ein schlimmes Mittel wirklich meinem guten Zweck hilft? Ich kann es vorab nur behaupten, und das mag Leute, auf die ich angewiesen bin, weil Politik Gemeinschaftswerk ist, nicht überzeugen.

Die zweite Ansicht übers Zweck-Mittel-Verhältnis in der Politik glaubt, dass nur diejenigen Mittel erlaubt seien, die dem Zweck moralisch gleichen. Wer so denkt, darf gegen Kriege zum Beispiel nur mit friedlichen Mitteln vorgehen. Das größte Problem dabei: Wenn die unbewaffnete Pazifistin erschossen wird, ist ihr Kampf vorbei.

Beide Ansichten, die erste wie die zweite, sind undialektisch. Lenin wusste, dass weder das Mittel gegenüber dem Zweck neutral ist noch der Zweck gegenüber dem Mittel. Beide müssen einander ständig kontrollieren, wie im wissenschaftlichen Zusammenhang von Theorie und Praxis: Ist das Mittel X noch dem Zweck Y dienlich, ist der Zweck Y nach den neuesten Erfahrungen noch vernünftig formuliert?

Dialektik heißt, dass, wenn man etwas als Quatsch erkannt hat, deswegen noch lange nicht das schematische Gegenteil davon wahr sein muss. Die Wahrheit kann auf einem Niveau liegen, das zwei einander widersprechende, primitive Thesen beide nicht erreichen. Wenn zum Beispiel bürgerlicher Technikpessimismus die Physik für die Atombombe verantwortlich macht, dann werden damit das Kapital und seine Politik, in deren Machtbereich diese Bombe erstmals gebaut wurde, der Kritik enthoben. Aber aus der Ablehnung dieser Verkürzung folgt nicht, die Wissenschaft oder die Atombombe wären umgekehrt „neutral“. Mit einer Bombe kann man zerstören und töten, da fragt sich stets: „Wer wen?“ – so Lenin, der maßgeblich an der Schöpfung zweier großer Mittel auf dem Weg zum Kommunismus beteiligt war: Erstens der bedeutendsten revolutionären Partei der Neuzeit und zweitens des ersten sozialistischen Staates.

Von Freiheit und Disziplin

Die Abschaffung von Ausbeutung, Unterdrückung, Armut, Unbildung, Einsamkeit, Eingesperrt- oder Ausgeschlossensein wollen viele. Manche von ihnen werfen Lenin vor, dass sein Parteikonzept den Leuten Disziplin abverlangt und dass sein Sozialismuskonzept dieses Parteikonzept als Hebel zum Aufbrechen und Umbauen der alten, schlechten Gesellschaft nutzt. Sie sagen: „Wollen wir Freiheit, wie können wir dann Disziplin verlangen, die doch Zwang bedeutet oder Selbsteinschränkung? Wollen wir Gleichberechtigung, wie können wir dann einen Unterschied machen zwischen denen, die hauptberuflich die Revolution betreiben oder im sozialistischen Staat Koordinationsaufgaben erledigen, und anderen, die das nicht tun?“

Lenin war klar: Revolution und Sozialismus sind große Aufgaben, die nur zu bewältigen sind, wenn alle mitmachen. Was alle tun sollen, müssen stets einige beginnen, denn Kommunikation über Aufgaben und Lösungen sowie die Umsetzung ihrer Ergebnisse funktioniert nie augenblicklich. Menschen können nicht Gedanken lesen, sie müssen diskutieren und durch Versuche herausfinden, was sich wann wie ändern lässt. Die Strukturen dafür stehen in der schlechten alten Gesellschaft nicht fertig herum, deshalb ist sie ja schlecht. Wo es mehr als eine Möglichkeit gibt, ein Problem zu lösen, entstehen Meinungsverschiedenheiten, und wo Lösungen nur funktionieren, wenn alle mitmachen, wie beim Umbau einer kompletten Gesellschaft, müssen Menschen, einzelne oder viele, die eine andere Lösung wünschen als die von der Mehrheit beschlossene, dem Zwang ausgesetzt werden oder sich selbst zwingen, den Kurs der Mehrheit mitzutragen. Umgekehrt muss in manchen Lagen sogar eine Mehrheit einem Zwang ausgesetzt werden, den man nicht beliebig lange diskutieren kann, etwa bei Schulpflicht oder in bestimmten militärischen Nöten. Die beiden primitiven Positionen „Zwang hilft immer“ (eine Radikalisierung von „Der Zweck heiligt die Mittel“) und „Niemals Zwang“ (eine Radikalisierung von „unsere Mittel müssen unser ideales Ziel immer schon vorwegnehmen“) halten der Praxisprüfung nicht stand. Lenins Konzept ist klüger als beide.

Vom Lenken des Staates

Was er mit seiner Konzeption der Partei in der Revolution und im Sozialismus wollte, steht offen in den Quellen; er hielt nichts von Heimlichtuerei und Herrschaftswissen. Sein Aufsatz „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?“ aus dem Jahr 1917 liefert noch heute die nötigen Argumente gegen die Verleumdung, er habe Russland eine Demokratie versprochen und stattdessen die Parteiherrschaft der Bolschewiki gebracht. Das historische Archiv spricht dazu ohnehin eine klare Sprache: Noch als Lenins Bolschewiki bereits die Staatsmacht erobert hatten, wurde die rechte Kadettenpartei nicht verboten oder zerschlagen, konnte sich der rechte Flügel der russischen Sozialdemokratie (die Menschewiki) versammeln und in legaler Presse artikulieren, mehr: Selbst die zwischen linker und rechter Umsturzromantik oszillierenden sogenannten „Sozialrevolutionäre“ blieben eine Weile organisiert und hatten eine Pressestimme, bis sie es mit dem schlechten Benehmen übertrieben, unter anderem per Attentat auf Lenin durch die Anarchistin Fanny Kaplan und mit einem Anschlag auf ein bolschewistisches Parteibüro, bei dem Nikolai Bucharin verletzt wurde.

Der große Ärger, den sich die Bolschewiki durch die Oktoberrevolution mit der international vernetzten Reaktion einhandelten, wird noch heute verniedlichend „Bürgerkrieg“ genannt, um seinen weit über Russland hinausgreifenden Charakter zu vernebeln und die Angriffe von Engländern, Amerikanern, Türken, Franzosen und anderen auf die junge Republik zu unterschlagen, die in derselben Stoßrichtung kämpften wie das „weiße“, zaristische Pack. Ein General Krasnow aus diesem Feld wurde von der Revolution gefangengesetzt. Auf sein Ehrenwort, Ruhe zu geben, ließ man ihn laufen. Er griff bald wieder an.

Was macht man gegen solche Leute? Wie baut man das auf, was sie vernichten wollen? Welche Rolle sollte nach Lenins Auffassung unter solchem Beschuss die Partei im neuen Staat und dieser für die Gestaltung einer neuen Gesellschaft spielen?

In „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?“ steht, gegen welche Sorte Entmutigungspropaganda des Feindes sich sein Parteibegriff richtete: „Das Proletariat, sagt man uns, werde den Staatsapparat nicht in Gang setzten können. Russland wurde nach der Revolution des Jahres 1905 von 130 000 Gutsbesitzern regiert, und zwar mittels endloser Vergewaltigung und Drangsalierung von 150 Millionen Menschen, deren ungeheure Mehrzahl zu Zuchthausarbeit und zu einem Hungerdasein gezwungen wurde. Und da sollen 240 000 Mitglieder der Partei der Bolschewiki nicht imstande sein, Russland zu regieren, es im Interesse der Armen und gegen die Reichen zu regieren? Diese 240 000 Menschen haben schon jetzt nicht weniger als eine Million Stimmen der erwachsenen Bevölkerung hinter sich, denn gerade ein solches Verhältnis zwischen der Zahl der Parteimitglieder und der Zahl der für die Partei abgegeben Stimmen ist durch die Erfahrungen Europas und durch die Erfahrungen Russlands, zum Beispiel bei den Augustwahlen zur Petrograder Duma, festgestellt worden. Da haben wir also schon einen ‚Staatsapparat‘ von einer Million Menschen, die dem sozialistischen Staat aus Überzeugung ergeben sind und nicht, weil sie am 20. jeden Monats einen schönen Batzen einstecken. Darüber hinaus besitzen wir ein ‚Wundermittel‘, um unseren Staatsapparat sofort, mit einem Schlage, zu verzehnfachen, ein Mittel, über das kein einziger kapitalistischer Staat jemals verfügt hat oder je verfügen kann. Dieses Wundermittel ist die Heranziehung der Werktätigen, die Heranziehung der armen Bevölkerung zur täglichen Arbeit an der Verwaltung des Staates.“

Gegen die Phrase „Die bislang Unterdrückten können nicht verwalten“, die sich plausibel anhört, weil sie allgemein und inhaltsleer über ein komplexes Thema redet, dessen Einzelheiten man nicht sofort überblickt, setzt Lenin Zahlen, Daten, Hochrechnungen – und ein anschauliches Exempel wider die Behauptung des Feindes, der alte Staat verstünde die Lösung von Problemen, die auch der neue hat, aus Routine besser. Das Beispiel, das er wählt, ist heute hochaktuell; es betrifft nämlich das Wohnen. Die Mietsorgen in der Corona-Krise wie die Debatten über Enteignungen von Immobilienriesen haben alle im Ohr, die diesen Text hier lesen. Lenin sagt: Es wird auch im Sozialismus vorkommen, dass Leute ihre Wohnung verlieren, zum Beispiel, weil ein Haus baufällig ist und sich die Wiederherstellung nicht lohnt, oder weil da, wo es steht, eine Straße, eine Fabrik, ein Krankenhaus gebaut werden muss. Was der kapitalistische Staat in so einem Fall tut, ist etwas ganz anderes als das, was ein sozialistischer tun kann, der die Bevölkerung für Staatsaufgaben mobilisiert. Lenin sagt, wer die Wohnung verliert, wird in der jungen Sowjetunion nicht wie im Kapitalismus auf die Straße geworfen, sondern in schlecht genutzten oder spekulativen Besitz anderer, vermögender Leute einquartiert. Für den geordneten Ablauf sorgt die Volksmiliz, deren Zusammensetzung Lenin in einer Beispielrechnung angibt: „Zwei Matrosen, zwei Soldaten, zwei klassenbewusste Arbeiter (von denen nur einer Mitglied unserer Partei oder Sympathisierender sein mag), ferner ein Intellektueller und acht Werktätige aus den armen Schichten, darunter unbedingt zumindest fünf Frauen, Dienstboten, ungelernte Arbeiter usw.“

Vom Denkenwollen und -können

Wie eine gute Ingenieurin immer auch ein bisschen Physikerin sein muss, da gute Praxis stets Theorie braucht, war Lenin nicht nur genialer Techniker der proletarischen Revolution und der sozialistischen Verwaltung, sondern auch ein philosophischer Kopf, geschult in der Lehre des dialektischen Materialismus. Die Dialektik stammt als Lehre vom Widerspruch, vom Zusammenfallen der Gegensätze und vom Umschlag der Quantität in die Qualität aus der griechischen Antike und wurde von Georg Wilhelm Friedrich Hegel im 19. Jahrhundert zu ihrer höchsten Abstraktionshöhe geführt, allerdings idealistisch, als Lehre der Ideenwelt. Sie erlaubt jedoch, wie die Materialisten Marx und Engels erkannten, das Begreifen tatsächlich widersprüchlicher Vorgänge in Natur und Gesellschaftsgeschichte, die man mit einem bloß mechanischen Materialismus, der Widersprüche nicht aushält, nie begreifen könnte. So ist es beispielsweise das Licht, was uns das Sehen erlaubt, aber zu viel davon kann uns blenden – ein Widerspruch als Verhältnis von Quantität und Qualität.

Seit Engels vorausschauend davor warnte, die dialektische Analyse eines Sachverhalts mit der sie ermöglichenden Forschungsarbeit zu verwechseln (wer Dialektik beherrscht, ist deswegen noch nicht in Optik, Botanik oder Virenkunde beschlagen, aber wer diese drei kennt, vermag mit der Dialektik einige ihrer Rätsel zu lösen), sind die besten Köpfe des dialektischen Materialismus damit befasst, das Durcheinander aus (schlechter) Philosophie und Wissenschaft zu sortieren, das im bürgerlichen Lehr- und Meinungsbetrieb diverse Denkmoden (von den flacheren Varianten des Positivismus über Sir Karl Poppers Naturgesetzzweifel bis hin zu den poststrukturalistischen „Science Studies“) umgibt. Lenins Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“ (1909) stellt ein Modell solcher Sortierarbeit bereit. Es ist nicht dogmatisch, sondern lehrt unter anderem, ganz im Sinne von Engels, „mit jeder epochemachenden Entdeckung schon auf naturwissenschaftlichem Gebiet“ müsse der Materialismus „seine Form“ erneuern – aber eben nicht sein Wesen, das nach Marx im Kriterium der Praxis steckt.

Ob man eine Absicht (Wir wollen weniger Kranke, stärkeren Raketenantrieb, sicheren Informationsaustausch …) aufgrund einer Annahme besser oder schlechter erreicht, ist die Frage des Materialismus. Wie man diese Annahmen zueinander mit entwicklungsfähiger Offenheit in Relation setzt, ist die Frage der Dialektik.

Idealismus verwechselt Natur wie Gesellschaftsleben mit Ideen. Die beiden Ersteren passieren auch ohne Bewusstsein (im Gesellschaftlichen etwa als Gewohnheit, als „naturwüchsiges“ Handeln, wie Marx das nennt). Ideen dagegen müssen entworfen, entwickelt und verknüpft werden. Für ihre Richtigkeit gibt es keine Garantieversicherung rein aus der Dialektik oder dem Materialismus. Schlimmer: Auch Kommunistinnen und Kommunisten können „naturwüchsig“ erschlaffen, also in gedankenarmen Trott fallen, wie Lenin in „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ (1920) mahnt: „In jeder Klasse, sogar unter den Verhältnissen des aufgeklärtesten Landes, sogar in der fortgeschrittensten Klasse, die durch die Zeitumstände zu einem außerordentlich hohen Aufschwung aller geistigen Kräfte gelangt ist, gibt es immer Vertreter der Klasse – und wird es, solange Klassen bestehen, solange sich die klassenlose Gesellschaft nicht völlig konsolidiert, gefestigt und auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, unvermeidlich immer Vertreter der Klasse geben –, die nicht denken und nicht fähig sind zu denken.“

Für diese Leute kann man wenig tun, bis sie sich bessern. Umso wichtiger aber ist es für kommunistische Politik, dass man die anderen, die denken wollen und können, mit allen materiellen Grundlagen dafür versorgt, was Lenin unermüdlich tat. Im April 1918 forderte er beispielsweise mit Nachdruck die „Herausgabe der Materialien der Akademie der Wissenschaften über die systematische Untersuchung der natürlichen Produktivkräfte Russlands an das Volkskommissariat für Bildungswesen, an den Buchdruckerverband und das Kommissariat für Arbeit“. Das ist etwas, das keine bürgerliche Modernisierung, Industrialisierung oder Digitalisierung je tut: durch Buchdruck oder mittels anderer gegebener Werkzeuge die Kenntnis der Massen über die Ressourcen fördern, die dem gesellschaftlichen Leben und seiner Weiterentwicklung vorausgesetzt sind. In einem stocknüchternen Bericht über die Arbeit des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare vom 2. Februar 1920 zitiert Lenin die in der jungen Sowjetunion gern gebrauchte Formel „Das Zeitalter des Dampfes ist das Zeitalter der Bourgeoisie, das Zeitalter der Elektrizität das des Sozialismus“. Dazu führt er aus: „Wir müssen für den neuen ökonomischen Aufbau eine neue technische Basis haben. Diese neue technische Basis ist die Elektrizität. Auf dieser Basis werden wir alles aufbauen müssen. Das braucht viele Jahre. Wir haben keine Angst, 10 und 20 Jahre lang zu arbeiten. Doch wir müssen der Bauernschaft zeigen: Im Gegensatz zu der früheren Isoliertheit von Industrie und Landwirtschaft, diesem tiefen Widerspruch, der den Kapitalismus genährt und mit dem er Zwietracht zwischen Industrie- und Landarbeitern gesät hat, stellen wir uns die Aufgabe, der Bauernschaft das zurückzugeben, was sie uns leihweise in Form von Getreide überlassen hat, denn wir wissen, dass Papiergeld natürlich kein Äquivalent für Getreide ist. Wir müssen diese Anleihe zurückzahlen, indem wir die Industrie organisieren und die Bauern mit Industriewaren versorgen. Wir müssen den Bauern zeigen, dass die Organisation der Industrie auf der Basis der höchstentwickelten modernen Technik, auf der Basis der Elektrifizierung, die Stadt und Land verbinden wird, die Kluft zwischen Stadt und Land beseitigt und die Möglichkeit bietet, das Kulturniveau im Dorfe zu heben und selbst in den entlegensten Winkeln über Rückständigkeit, Unwissenheit, Elend, Krankheit und Verwahrlosung den Siege davonzutragen.“

Die „Zwietracht“ zwischen abhängig Beschäftigten verschiedener Sorten erzeugt der Kapitalismus noch heute, nicht nur als epochalen Widerspruch zwischen Stadt und Land (oder zwischen imperialistischen Zentren und Elendsregionen anderswo), sondern sogar, sagen wir, in Berlin-Mitte, wo etwa die Corona-Krise starke Chancendifferenzen zwischen Leuten, die ihr Erwerbsleben ins Home-Office verlegen können, und anderen, denen das nicht gegeben ist, hervortreten ließ. Bürgerliche Intellektuelle zwischen Soziologie und Journalismus sind von solchen Befunden immer wieder aufs Neue überrascht und schockiert, weil sie das Instrument der Klassenanalyse nicht kennen. Weil es ihnen fremd ist, machen sie immer dieselben Fehler, ob sie beim Versuch, gegen den deutschen Nationalismus Stellung zu beziehen, in undialektisch antideutschen Stumpfsinn stolpern, oder aus berechtigter intellektueller Abneigung gegen gewöhnliche Lohnarbeits-Ausbeutung irgendwelche Illusionen über die scheinbare Selbstständigkeit in der aufs Internet gestützten „Gig Economy“ fördern. Man kann ihnen das moralisch vorwerfen, aber besser, man setzt auch dieses Übel dem Licht der Klassenperspektive aus, dann kann man es erklären, wie Lenin es erklärt hat: „Diese Schlamperei, Nachlässigkeit, Unordentlichkeit, Ungenauigkeit, die nervöse Hast, die Neigung, Taten durch Diskussionen, Arbeit durch Gerede zu ersetzen, diese Neigung, alles in der Welt anzufangen und nichts zu Ende zu führen, ist eine jener Eigenschaften der ‚Gebildeten‘, die sich keineswegs aus ihrer schlechten Natur und noch weniger aus Böswilligkeit, sondern aus allen ihren Lebensgewohnheiten, ihren Arbeitsverhältnissen, ihrer Übermüdung, der anormalen Trennung der geistigen Arbeit von der körperlichen usw. usf. ergeben.“

Gerade wenn man selbst einen Beruf hat, auf den zutrifft, was Lenin sagt, kann man aus solchen Worten Kraft holen: Manchmal haut man mit besten Absichten daneben, ist mir auch schon passiert, wie den verschiedensten Leuten aus den verschiedensten Gründen. Die richtige Richtung auf dem Weg aus den Irrtümern zeigt eben häufig ein Kompass, den Lenin gebaut hat.

Von der revolutionären Aufgabe

Weil wir sagen können, welche Verfahren und Anregungen wir Lenin verdanken, haben wir Führerkult nicht nötig – der Leninismus ist nicht die rätselhafte Göttergabe eines Einzelnen, sondern die Zusammenfassung der revolutionären Arbeit einer Partei und ihres Umfelds in günstiger historischer Lage. Außer Lenin hat sie beispielsweise Menschen wie den Elektroingenieur Leonid Krassin zum Zuge kommen lassen, den Absender und Empfänger einiger der interessantesten Briefe an und von Lenin. Krassin arbeitete in Deutschland zu vorrevolutionärer Zeit für Siemens, leitete später eine Siemens-Niederlassung in Russland, wurde nach der Oktoberrevolution Volkskommissar für Handel und Industrie sowie später für Außenhandel. In der Untergrund­epoche des Bolschewismus gab es Berichte der zaristischen Geheimpolizei über den jungen Krassin, in denen die Polizei sich beruhigt zeigte, der Mann arbeite an seinen Elektrowissenschaften und also offenbar nicht mehr für die Revolution. Die Spitzel haben ihn verkannt: Indem er an seinen Elek­trowissenschaften arbeitete, bereitete er die Revolution mit vor (wer mag, kann das in einem sehr schönen kleinen Roman der sowjetischen Schriftstellers Wassili Axjonow namens „Die Liebe zur Elektrizität“ aus dem Jahr 1971 nachlesen).

Revolutionäre wie Krassin fanden sich unter Lenins Losung „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes, denn ohne Elektrifizierung ist es unmöglich, die Industrie hochzubringen“ (zu finden unter anderem in „Unsere außen- und innenpolitische Lage und die Aufgaben der Partei“ aus dem Jahr 1920) zusammen. Verdrehung macht aus dieser Losung manchmal ein Versprechen, das nicht eingelöst worden sei: Kommunismus heißt doch klassenlose Gesellschaft, aber die kam nicht, obwohl das Land irgendwann Strom hatte.

Unterschlagen wird dabei der angeführte zweite Teil des Satzes, der sagt; „… ohne Elektrifizierung ist es unmöglich, die Industrie hochzubringen.“ Lenin dachte nicht in toten Schemata wie „wenn A, dann B“, sondern neigte zu Realismus der Form: „OHNE A gibt’s kein B“. „Kommunismus“ hat, wie er immer wieder betonte, zwei Stufen: Die niedere oder sozialistische, in der es noch Klassen gibt, in der aber die materiellen Voraussetzungen für die höhere, klassenlose Stufe geschaffen werden müssen. Sie ist ein Zweck, den die Technik der Politik nur erreicht, wenn in den Seelen derer, die diese Technik bauen und benutzen, das Feuer der Revolution brennt. Die Frage ist nicht: Kam der Kommunismus? Die Frage ist: War überhaupt mehr Kommunismus zu haben, bei gegebener Lage, als kam? Was lernen wir daraus?

Der alte Leninismus, der elektrische, kann und muss erneuert werden, auf dem Stand der neuesten Produktivkräfte. Das Maß der Mittel am Zweck, des Zwecks an den Mitteln, verlangt informationstechnischen Leninismus, genetisch und proteomisch aufgeklärten Leninismus, Wasserstoffspeicher-Leninismus, Fiberglas- und Spintronik- und Kernreaktoren-Leninismus. Unsere Zeit fordert eine Sozialisierung der Möglichkeiten von Quantencomputern, neuen Polymeren und Supraleitern. Die kapitalistisch-monopolistische Wirtschaftsweise zeigt jeden Tag, dass sie außerstande ist, diese Entdeckungen zur Trockenlegung von Quellen des Leidens zu nutzen, zur Befreiung und Entwicklung menschlicher Potenziale, zur Verbesserung des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit den natürlichen Lebensgrundlagen. Die Chancen schlafen, betäubt vom falschen Leben. Weil sie schlafen, haben sie Albträume. Was Bechers Gedicht über Lenin sagt, gilt also: „Er rührte an den Schlaf der Welt/Mit Worten, die Blitze waren./Sie kamen auf Schienen und Flüssen daher/Durch alle Länder gefahren.“

Man hüte sie und verbreite sie weiter.