“Wo linke Kritik aktuell bleibt” – Artikel von Georg Fülberth zum Ukraine-Krieg
Wir verweisen an dieser Stelle sehr gerne auf den Artikel “Wo linke Kritik aktuell bleibt” von Georg Fülberth, der im aktuellen Heft der Wochenzeitschrift der Freitag erschienen ist.
Wo linke Kritik aktuell bleibt
von Georg Fülberth
Ukraine-Krieg Die NATO-Osterweiterung muss hinterfragt werden und Wladimir Putin vertritt rationale geopolitische Positionen. Lange Zeit war genau das für viele Linke klar. Nach Russlands Invasion bleibt die Frage: War das alles ein Irrtum?
Egal ob Partei, Bewegung oder Einzelpersonen, die sich in diesem Feld engagieren: Linke haben immer wieder die Osterweiterung der NATO kritisiert und Wladimir Putin als einen rationalen und an internationaler Stabilität interessierten Politiker gesehen. Ebenso urteilte auch der Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi in einem jüngst erschienenen Buch.
Jetzt werden diejenigen, die so argumentierten, als blamiert vorgeführt. Dabei könnten sie sich doch bestätigt fühlen. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist eine zwar nicht zwangsläufige, aber in ihrer Entstehung erklärbare Konsequenz einer westlichen Konfrontationspolitik, vor der sie immer gewarnt haben.
2001 sprach der russische Präsident vor dem Deutschen Bundestag über gesamt-, nicht nur westeuropäische Kooperation. Zwei Jahre vorher waren Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO aufgenommen worden. 2004 kamen Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien dazu.
2007 beklagte Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz „eine fast unbegrenzte, hypertrophierte Anwendung von Gewalt – militärischer Gewalt – in den internationalen Beziehungen“. Eine „unipolare Welt“, von der nach dem Ende Katen Kriegs gesprochen wurde, sei nicht zustande gekommen. Er mahnte: „Man darf die UNO nicht durch die NATO oder die EU ersetzen“. 2009 traten Albanien und Kroatien dem Nordatlantik-Pakt bei, 2017 kam Montenegro dazu, 2020 Nordmazedonien.
Amerikanische Politik der Einkreisung
In München 2007 war Putin immer noch nicht der großrussische Chauvinist und Paranoiker, als der er in seiner Rede am 21. Februar 2022 und unmittelbar danach durch die Invasion in der Ukraine in Erscheinung trat. Seine Rede wurde damals als eine Kampfansage interpretiert. Doch in Wirklichkeit beschrieb er lediglich einen Zustand, zu dem Russland bis dahin nichts beigetragen hatte. Zwischen seinem Vorschlag von 2001 im Bundestag und dem Völkerrechtsbruch 2022 lagen 21 Jahre fortgesetzter NATO-Osterweiterung. Diese aber ist nur eine europäische Flanke eines weit größeren Projekts.
Denn die US-amerikanischen Präsidenten Obama und Biden haben die Volksrepublik China zum Hauptfeind erklärt. Der Schwerpunkt dieser Auseinandersetzung liegt in der indopazifischen Region, in der die USA ebenfalls eine ähnliche Politik der Eindämmung und -kreisung betreiben. Putin hatte 2007 in München eine solche Strategie als den zum Scheitern verurteilten Versuch bewertet, eine unipolare Weltordnung zu errichten. Doch man kann auch unabhängig von ihm zu einer solchen Sicht kommen. Eine Linke, die dies analysiert, braucht sich nicht zu verstecken. Wenn ihre Friedenspolitik sich auf eine realistische Untersuchung internationaler Kräfteverhältnisse stützt, ist sie nicht nur pures Gefühl, als das sie immer wieder einmal erscheint. Angemessen wäre auch die Warnung davor, dass die Bundesrepublik Teil einer Koalition der Willigen an der Seite der USA in deren Showdown mit China wird.
Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass fast alle Linken den Umbruch in Putins Denken und Handeln zwischen 2001 und 2022 nicht mitbekommen haben. Worauf beruhte er?
Anlass und Vorwand für Aggressionen
Mit dem Ende der Sowjetunion 1991 kehrte Russland in den Kapitalismus zurück, in dem das Land schon vor 1917 angekommen war. Zwar war er noch schwach, aber Lenin – über den Putin in seiner Fernsehansprache am 21. Februar ätzende Kritik ausschüttete – hatte darauf hingewiesen, dass das Gesellschaftssystem im Zarismus – wie auch in den westlichen Ländern – schon das imperialistische Stadium erreicht hatte. Zu dessen Eigenschaften gehört nicht nur der Kampf um Absatzgebiete für Waren, um Kapital und um Rohstoffquellen, sondern zugleich die Tendenz, innere Widersprüche aggressiv nach außen zu transportieren. Das gilt heute für die gesamte kapitalistische Welt, auch für Russland. Die Osterweiterung der NATO war Anlass und Vorwand für Aggression zugleich.
Am 25. Februar fand eine Sondersitzung des Bundestags statt. Die Linkspartei lehnt Waffenexporte in die Ukraine und die Erhöhung der Rüstungsausgaben ab, nicht aber Sanktionen. Amira Mohamed Ali, die Co-Vorsitzende der Linksfraktion, machte Vorschläge für deren Feinjustierung. Die jahrzehntelange NATO-Osterweiterung kritisierte sie nicht. Dies überließ sie der AfD-Abgeordneten Alice Weidel und auch anderen Rednern von deren Fraktion, die in diesem Punkt – zugleich kontaminiert durch Forderungen nach Hochrüstung und Rückkehr zur Atomkraft – die Oppositionsführung übernahm, anstelle der Linkspartei.